Wie wohnen und leben Ukrainer?
Dies ist ein vertiefter Beitrag zu der kurzen Übersicht „10 Dinge die du vor deiner Reise in die Ukraine wissen solltest!“ den du auch hier im Blog findest.Disclaimer: Dieser Artikel ist größtenteils vor dem ukraineweiten russischen Angriffskrieg verfasst worden und bezieht sich auf meine persönlichen Reise- und Besuchserfahrungen. Natürlich wohnen auch in der Ukraine Menschen höchst unterschiedlich zwischen Hütten, Plattenbauten und Palästen!
Im ländlichen Bereich trifft man auf eine schier unüberschaubare Vielfalt von Häusern. Eine strikte Bebauungsordnung wie in Deutschland gibt es in der Ukraine nicht. Erlaubt ist mal wieder was gefällt. Ich liebe die bunten Anstriche, üppigen Mosaike aus Metallplatten, bemalten Hölzern oder alten Fliesen die oft im Sockelbereich angebracht sind, Wintergärten und glasüberdachte Eingangsbereiche und Verandas. Holzschindeldächer neben asbesthaltigen Welleternit-Dächern. Und fast immer ein Selbstversorgergarten zur Straße hin, in dem ich gerne ein Bienchen wäre. Selbst im Winter erahnt man die Fruchtbarkeit wenn alles kuschelig mit Frost und Schnee überzogen ist und die Kamine rauchen. Fotos im Frühling zu machen ist fast unmöglich, weil die Blüten der Obstbäume alles verdecken. Auch die Hütten, die erkennen lassen, dass die Bewohner eher zur untersten Einkommensschicht zählen, werden im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten meist liebevoll farblich gestaltet. Oft finden sich die Häuser rechts und links von den Landstraßen, so dass es kein eigentliches "Dorfzentrum" gibt, sondern eher ein Spalier aus Häusern, Gärten und Geschäften direkt an der Straße, so dass ich meine Neugier aus dem Autofenster blickend hemmungslos befriedigen kann. Einige Dörfer sind jedoch auch sehr verlassen und ich vermute, dass mangelnde wirtschaftliche Perspektiven und Überalterung eine große Rolle spielen.
Für Architektur Interessierte lohnt sich Ausflug ins Kiewer "Museum für Volksarchitektur und Brauchtum der Ukraine"
Ein Besuch im Kiewer "Museum für Volksarchitektur und Brauchtum der Ukraine" ist absolut empfehlenswert. Auf einem riesigen Freiluftgelände unweit von Kiew, wurden im großen Stil Häuser aus sämtlichen Epochen der ukrainischen Geschichte und Bauweisen originalgetreu aufgebaut. Jedes Häuschen hat einen blumenübersähten Garten und einen "Paten" der sich um die Instandhaltung, Einrichtung und Pflege des Häuschens kümmert. So haben wir einmal eine absolut süße Babuschka getroffen, die uns "ihr" Häuschen in und auswendig gezeigt und erklärt hat. Sie erntet aus dem Garten sogar Getreide und nutzt das Stroh, um die Strohbetten auf dem Kachelofen in dem Museumshäuschen jedes Jahr aufs neue frisch zu bestücken. Im Winter brennt in den Häusern teilweise sogar Feuer, so dass man stets das Gefühl hat, man ist zur Besuch und die Bewohner aus einer anderen Zeit seien nur kurz im Garten. Nachdem wir diese Einblicke in die Zeitalter und Bauweisen, sowie die Regionen bekommen hatten, war es umso interessanter die ländlichen Gegenden der Ukraine auf unseren Road Trips zu erkunden und die Häuser und Baustile zuzuordnen.
Leben in Kiew und ukrainischen Großstädten
Es ist sehr normal die Wohnsituation von Bekannten nicht genau zu kennen. In der Ukraine, besonders in Kiew leben viele Erwachsene noch mit 40 bei ihren Eltern. Das hat den Hintergrund, dass die Löhne niedrig, die Lebenshaltungskosten aber vergleichsweise hoch sind. Wenn ein durchschnittlicher Lohn 420€ (in Kiew rund 620€) im Monat beträgt, bedeutet es, dass unfassbar viele Menschen für weniger als diesen durchschnittlichen Lohn arbeiten, vor allem in Kiew, wo das durchschnittliche Einkommen, durch die Oligarchen und die Oberschicht stark verzerrt sein dürfte. Wenn eine abgerockte 2-Zimmer Wohnung, die wenigstens in der Nähe einer U-Bahn-Station liegt ab 300 Dollar aufwärts gemietet werden kann, dann ist es oftmals finanziell nicht machbar allein zu Leben. Die Kaufpreise für Wohnung liegen übrigens ähnlich hoch wie in deutschen Städten. Es gibt also keinen Grund beleidigt oder misstrauisch zu werden, wenn alle Verabredungen in Bars, Cafés oder Restaurants stattfinden. Es ist ganz üblich. Wenn sich die Situation im Gespräch ergibt, wird manchmal im Nebensatz erwähnt, dass jemand bei seinen Eltern wohnt.
Viele der Generation 50+ konnten sich in den 90ern, als finanziell „alles möglich war“ und großer Umbruch herrschte eine eigene Wohnung oder Haus kaufen. Da die Zinsen für (Immobilien-)Kredite in der Ukraine meist um die 12 Prozent liegen ist es nicht wirtschaftlich, sich eine Wohnung oder ein Haus auf Kredit zu kaufen. Das heißt wenn Menschen in ihrem Eigentum leben, dann gehört es ihnen auch meistens wirklich. Wenn ein Deutscher dann erzählt, dass er als Investition eine Wohnung gekauft hat, hilft es hinzuzufügen, dass es in Deutschland reicht, das Geld für die Kaufnebenkosten und vielleicht 10% des Kaufpreises mitzubringen, um eine Wohnung dann z.B. über die Miete abzubezahlen. Auch zu erwähnen, dass die Zinsen hier historisch niedrig liegen (bzw. mittlerweile lagen? #Zinswende), sorgt für Verständnis. Ansonsten könnte schnell der Eindruck entstehen, das Geld wie Heu vorhanden ist, da Wohnungen in der Ukraine eben meist in Cash bezahlt werden.
Insgesamt sind mir einige Unterschiede bei den Lebenshaltungskosten zwischen der Ukraine und Deutschland aufgefallen. Gesundheitsvorsorge ist staatlich und für alle Bürger grundsätzlich kostenfrei. Dinge wie Hausgeld für Eigentumswohnungen, oder Grundsteuer fallen beim Besitz einer Immobilie nicht an. Die Häuser gehören oft dem Staat oder Investoren und die Menschen können die einzelnen Wohnungen ohne weitere Verpflichtungen kaufen. Dies führt oft zu dem für Deutsche merkwürdigen Bild, einen Wohnblock zu betreten, in dem der Fahrstuhl, die Treppen und alles Gemeinschaftliche original aus dem Jahr 1973 ist, die Wohnungstüren und Balkone aber alle den individuellen Geschmack und wirtschaftliche Situation der Besitzer widerspiegeln. So findet man Wohnungen, die direkt aus einer hippen Einrichtungszeitschrift stammen könnten in wenig vertrauenserweckenden Anlagen und palastähnliche Häuser, die im Inneren im Rohbauzustand sind, weil auf halber Strecke das Geld ausgegangen ist.
Im Speckgürtel von Kiew z.B. Irpin (welches es nun durch den Krieg praktisch nicht mehr gibt- Wir haben dort vor Jahren Familie besucht, die bereits schon dort wohnte, bevor die Stadt hip wurde und viele wohlhabende Kiewer Familien anzog) oder Krenychi, gibt es auch oft bewachte Wohnanlagen. Diese sind von riesigen Zäunen und Wachposten umgeben, edle Autos fahren ein und aus und man kann über die Einfriedung hinweg schicke Wohnhäuser mit kleinen, sterilen Gärten vermuten. Das sind oft die Rückzugsorte der Neureichen, die die Angst vor Einbruch haben. Mich erinnern diese Anlagen einfach nur an Gefängnisse, aber in der Ukraine genießen sie einen recht guten Ruf.
Manche Villen erwecken den Eindruck, dass sie reinen Eindruckscharakter haben. Viele Besitzer arbeiten im Ausland, legen ihr Geld über ihre Immobilie in der Ukraine fest und bewohnen sie nur wenige Wochen oder Monate im Jahr. Trotz der niedrigen Baukosten, müssen diese Anlagen unterhalten werden. Auch wenn Strom- und Gaskosten bisher niedrig waren, erschließt sich mir oft der Aufwand nicht. Aber das liebe ich an der Ukraine - Ich verstehe nicht alles, aber ich bin fasziniert und darf einfach mal staunen und mich immer wieder überraschen lassen wie ein Kind :)
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