Ukraine Krieg
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine tobt nun seit über 220 Tagen. Ein halbes Jahr Angst und Schrecken. Sorgen um eine nukleare Katastrophe durch einen russischen Atomschlag oder kriegsbedingt durch den Angriff russischer Truppen ein Super-GAU, auf ukrainischem Boden, eine globale Katastrophe durch ein Reaktor- Unglück der besetzten ukrainischen Kernkraftwerke. Zwischendurch Memes und Satire, die mich zum Nachdenken, Schmunzeln und auch Lachen bringen, eine Berg und Talfahrt und auch Schuldgefühle. 

Angst um Soldaten und Zivilisten, verheerende Zerstörungen, Bilder von Flucht, Tod, Folter, nicht ermessbarem Leid, die wir selbst hier, im noch sicheren Deutschland vermutlich unser Leben lang nicht wieder aus unserem Gedächtnis löschen können.

Ich erlebe ein Wechselbad der Gefühle, beobachte geschockt, wie ich als nun ehemalige Pazifistin Waffenlieferungen und militärische Hilfe jeder Art befürworte und fordere! Es war so leicht Pazifistin zu sein, solange meine Familie von den weltweiten Kriegen nie direkt betroffen war!

Der Krieg betrifft uns alle!

Es wechselten sich Phasen ab, in denen wir zusammen Nächte vor den Handys verbracht haben, in Angst vor Kontaktabbruch mit Angehörigen. Jeden Einschlag, jede Detonation aus den sozialen Netzwerken mit uns bekannten Landmarken, Karten verglichen und gehofft und gebangt haben, dass es nicht „unsere“ trifft. Aber es trifft „unsere“. Jeden Tag. Nach Wochen und Monaten im Kriegszustand- selbst hier in Dortmund über den persönlichen Kontakt in die Ukraine, die Nachrichten und die geflüchteten Menschen bei uns, kann ich von Herzen sagen: Jeder Ukrainer, jede Ukrainerin, jedes ukrainische Kind, die getötet, verwundet, geschändet, traumatisiert werden, jedes ukrainische Baby was nicht geboren werden wird, alle der Ukraine zur Unterstützung geeilten Helfer, Militärs aus der ganzen Welt, Männer und Frauen aus den USA, Schottland, Litauen, Polen, Weißrussland ja sogar russische Kämpfer auf Seiten der Ukraine, jeder dieser Menschen ist einer der „unseren“.

Meine Gebete, meine Hoffnung, mein Dank gelten ihnen allen. Zwischendurch war meine Angst, mein Bangen, mein Zweifel so groß, dass es Phasen gab, in denen ich tagelang versuchte, mich von den Nachrichten abzuschirmen. Nichts mehr wahrzunehmen. Die Menschen in den Kriegsgebieten haben diese Option nicht. Ich schämte mich, satt, mit einem kleinen Teil der Ukrainer*innen bei uns in Sicherheit lebend, nicht mal die Bilder, die Nachrichten aus der Ukraine aufnehmen zu können. Betrieb ich so nicht Verrat an den Zivilisten und tapferen Kämpfern? Als die Soldaten und Soldatinnen im Asow-Stahlwerk eingekesselt waren, wurde ich fast wahnsinnig vor Hilflosigkeit. Nun die Sorge um Schauprozesse zum Tag der Unabhängigkeit der Ukraine in Mariupol. Was kann man dagegen tun? Es ist zum verrückt werden. Da helfen auch kein Digital-Detox, keine Katzenvideos und kein Ausdauersport.

Kriegstrauma 

Als die Nachricht der Folter, der Genitalverstümmelung durch russische Soldaten an ukrainischen POW (Kriegsgefangenen) trotz selbst auferlegter Nachrichtensperre an mich drang, spürte mein ehemaliges Pazifistenherz den heißen, lodernden Wunsch der Vergeltung. Den Drang nach Rache. Vielleicht auch Hass auf die abgestumpften, kalten Menschen, die so etwas an wehrlosen Gefangen verüben können. Mehr noch Hass auf die Troll – gewordenen Menschen, die so etwas kaltschnäuzig in „lustigen“ Memes verarbeiten und in den sozialen Netzwerken teilen. Die Beiläufigkeit, mit der Ukrainer*innen das Mensch sein, das Recht auf Selbstbestimmung, auf ein eigenes Land abgesprochen wird schockiert mich. Die nicht enden wollenden Funde von Folterkammern der russischen Armee in befreiten Gebieten. Die Bilder von Kisten mit Zahnimplantaten, die mich doch erschreckend an den Holocaust  erinnern. Das zynische Abwiegen zwischen wirtschaftlichen Notwendigkeiten der Industriestaaten und dem Überlebenskampf eines Volkes, einer Nation. Die Gefühle, die ich durchlebe, die Gedanken, die ich denke, schockieren mich. Und immer noch: Ich sitze bei absoluter Meinungsfreiheit so sicher wie eine Made im Käse im fernen Deutschland. Die Menschen in der Ukraine haben den Luxus des räumlichen Abstands nicht. Sie sind mitten drin. Was macht das mit ihrer Psyche?

Die Nachrichten, wie selbst Amnesty International mit ihrem in die Kritik (bzw. Shitstorm) geratenen Bericht Verständnis für Russland zeigt, dass 61.000 getötete russische Soldaten noch nicht ausreichen, um den Nachschub an menschlichem Kanonenfutter aus Russland zu unterbinden, dass die ganze Zerstörung und der zersetzende Gestank des Todes nicht ausreichen, russische Touristen vom Urlaub auf der Krim abzuhalten. Das alles schockiert mich!

Prorussische Hetze

Harmlos anfangende Gespräche mit Menschen auf der Straße schockieren mich. Da war dieser Mann, dessen Hund mich an einem sonnigen Morgen als ich auf die U-Bahn wartete, herzerwärmend begrüßte. Nach flauschigem Smalltalk über Hund und dem Wetter fing er unvermittelt an über die Politik herzuziehen, wie spätestens im Winter alles vor die Hunde gehen werde, weil die Ukrainer uns wirtschaftlich so sehr schaden würden und die Politik nicht zu Putin halten würde, wie es seiner Ansicht nach „vernünftig“ wäre. Es wäre doch jahrzehntelang alles gut gegangen und jetzt würde man für ein paar Ukrainer alles aufs Spiel setzen. Wenn diese Uneinsichtigen doch einfach das Stückchen Erde aufgeben würden und sich Russland anschließen würden, wäre allen geholfen.
Ich bin bis jetzt schockiert, vor allem wenn ich mir annähernd vorstelle, dass er mit seiner Meinung leider absolut nicht allein ist.

Mir hilft nur das Schreiben, Kontakt mit den Ukrainer*innen, die wir in Sicherheit bei uns bringen konnten, Ablenkung wann immer möglich und mit meinem Gewissen vereinbar und seit kurzem auch gezielt selektive Wahrnehmung. Ich suche mir Erfolge der ukrainischen Armee raus, scanne die Nachrichten nach jedem optimistischen Beitrag, feiere kleine Siege, raffinierte Schachzüge der Armee, der Partisanen und versuche den Abzug, die Niederlage des russischen Militärs aus der Krim, aus der Ukraine zu visualisieren. Während weitestgehend ungestört die International Armee Games die russische „Kriegs-Olympiade“ in Russland stattfindet, stimmt es mich optimistisch, dass Putin sich nun erneut den seit 2016 durch Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko im Raum stehenden Anschuldigungen der Pädophilie stellen muss. Der aktuelle Twitter-Trend #PedoPutin vermag vielleicht das letzte Zünglein an der Waage zu sein, um das russische Volk endlich gegen den verehrten Diktator auf die Barrikaden zu bringen und den Zerfall des Putin- Regimes von innen auszulösen.

Kriegsfolgen

Ich weiß, dass es damit nicht getan ist. Ich weiß, dass trotz der Tapferkeit, der unfassbaren Stärke der unterschätzten Ukraine und ihrer Bewohner*innen auch nach einem Abzug der russischen Armee noch 100 Jahre Arbeit und Aufarbeitung auf die Ukraine warten. In Deutschland führen immer noch Funde von Weltkriegsbomben bei Bauarbeiten zur temporären Evakuierung zehntausender Menschen. Die Ukrainer*innen die bei uns sind, bekommen das aus den Nachrichten mit. Das intellektuelle Verständnis für die Langwierigkeit der Situation ist bei allen da, aber ich merke selbst, dass es trotzdem unmöglich ist, das Ausmaß wirklich zu begreifen.

Shitstorm für Elon Musk

Aktuell befreit die Ukraine Dorf um Dorf in der Region Kherson. Währenddessen rollt Putins Atomzug auf die Ukraine zu. Elon Musk, im Frühling noch wegen seine scheinbar selbstlosen Überlassung der "Starlink" - Satelliten gefeiert, hat sich dick in die Nesseln gesetzt, als er sinngemäß twitterte, eine faire Abstimmung und ggf. die Überlassung der annektierten Gebiete an Russland könnten den Frieden wieder herstellen. Das man mit Putin nicht verhandeln kann, haben die letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gezeigt. Es ist tragisch, wenn selbst als Genie bezeichnete Menschen wie Elon Musk das nicht verstehen. Vielleicht sollte er lieber bei der Auto-Herstellung bleiben.

Tschechien "annektiert" Kaliningrad

Nach dem niederländischen Vorschlag den Russ*innen per Referendum eine Angliederung an die Niederlande zu ermöglichen, wagt nun auch Tschechien einen geschichtlich einwandfreien Vorschlag! Tschechien fordert kurzerhand die Annexion Kaliningrads und beschert dem russischen Volk damit echte Paranoia. Das als Satire gestarteten Projekt, Kaliningrad unter 97,6 % Zustimmung in einem "freien Referendum" zu annektieren und zur tschechischen Stadt Kralovec umzubenennen, haben einige russische Medien als ernstgemeinten Fakt missverstanden. Die ganzen eigenen Fake-News haben scheinbar die Hirne der Redakteure und Journalisten weich gekocht. Jedoch ist das Projekt wirklich gut gemacht und unter dem Hashtag #VisitKralovec findet sich bereits die Touristen Homepage des neuen "tschechischen" Touristenmagnets - natürlich in tschechischer Sprache :) 
 

Der Schock, das Trauma wird noch lange da sein. Doch es gibt auch viel Hoffnung. Die Welt rückt auch irgendwie näher zusammen. Besinnt sich auf demokratische Werte. Zeigt Solidarität. Eine neue Art von Humor entsteht. Die Ukrainer zeigen mit dieser Art von Humor, dass sie sich nicht klein kriegen lassen. Das Interview von einem befreiten ukrainischen Soldaten aus Mariupol hat mich schwer beeindruckt. Er erzählte eine Geschichte aus seiner Kindheit. Wie sein Vater ihn lehrte, dass es nichts bringt den Kopf hängen zu lassen. Und auf die Frage, wie er die Zeit, die Folter in russischer Gefangenschaft ausgehalten habe antwortete er schlicht: "Man sucht sich Gleichgesinnte (unter den Gefangenen). Optimisten. Man erzählt sich Witze. Und dann geht das so." Misere gäbe es ja schließlich schon genug, ohne dass man mit seiner inneren Haltung noch dazu beitrüge. Ich habe größten Respekt und wünsche diese Stärke, diese innere Haltung uns allen. Slava Ukraini! 

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